Nachdem 22 Länder in einem Brief Chinas Politik in Xinjiang kritisiert haben, loben 37 andere Staaten Pekings Politik. Was bedeutet der ungewöhnliche Briefwechsel im Uno-Menschenrechtsrat?
Letzte Woche gab es dicke Post für den Präsidenten des Uno-Menschenrechtsrats in Genf. 22 Botschafter übergaben ihm einen Brief, in dem sie Chinas Vorgehen gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Xinjiang scharf kritisierten. Die Unterzeichnerländer – alles westliche Demokratien – fordern Peking dazu auf, die Menschenrechte zu respektieren und aufzuhören, willkürlich Uiguren und Angehörige anderer religiöser Minderheiten in Xinjiang zu inhaftieren und deren Bewegungsfreiheit zu beschneiden. Laut gut fundierten Schätzungen sperrt Peking in Xinjiang mehr als eine Million Menschen in Umerziehungslager. Zu den Unterzeichnern gehören neben mehreren EU-Ländern auch Japan, Australien und die Schweiz.
Peking bezeichnete den Brief als Verpolitisierung der Menschenrechte und eine Einmischung in Chinas interne Angelegenheiten. Doch am Freitag, dem letzten Tag der Ratssession, erhielt China seine Revanche. In einem separaten Brief lobten 37 Länder China für seine Massnahmen gegen islamistischen Terrorismus in Xinjiang. «Wir stellen anerkennend fest, dass die Menschenrechte in China im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus und bei der Deradikalisierung respektiert werden», schrieben die 37 Unterzeichnerländer, zu denen Nordkorea, Russland und Saudiarabien gehören.
Solche Briefe an den Präsidenten des Rates sind aussergewöhnlich, zumindest, dass sie von Ländergruppen gemeinsam geschrieben werden. «Es ist eine kreative Art, mit der heiklen Frage umzugehen, wer die Führung übernehmen soll», sagt Michael Ineichen, der bei der Menschenrechtsorganisation International Service for Human Rights (ISHR) in Genf für den Menschenrechtsrat zuständig ist. Für eine gemeinsame Erklärung im Rat braucht es ein Land, das diese einbringt und vorliest. Immer mehr Länder schreckten davor zurück, dies bei Fragen zu China zu tun, sagt Ineichen. Denn sie fürchteten, von Peking bestraft zu werden.
Mit dem Gegenbrief landete Peking einen Punktesieg: 22 zu 37 ist ein deutliches Resultat. Die «Global Times» schlachtete dies genüsslich aus. «China ist auf dem richtigen Weg im Kampf gegen Terrorismus und Extremismus», titelte das internationale Sprachrohr der Kommunistischen Partei Chinas – und führte als Beleg das Lob der 37 Länder an. Während den ersten Brief nur westliche Länder unterschrieben hätten, sei die zweite Gruppe viel repräsentativer: «Darum sind ihre Stimmen objektiver und fairer.» Dass sich auch viele muslimische Länder auf die Seite Pekings stellten (etwa Algerien, Ägypten oder Pakistan), hebt die chinesische Propaganda besonders hervor.
Der Briefwechsel zeugt vom wachsenden Graben in Sachen Menschenrechten zwischen China und den westlichen Ländern, die das heutige Menschenrechtssystem in der Nachkriegszeit massgeblich geprägt haben. Die Mehrheiten sind klar zugunsten Chinas. Einerseits stellen sich Länder, die es selber mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen, an Pekings Seite. Andere Regierungen tun dies, weil sie wirtschaftlich von China abhängig sind oder hoffen, sich so Vorteile zu verschaffen.
Interessant ist auch, welche Länder nicht unterschrieben haben. Im sogenannten 16+1-Format führt China mit 16 ostmitteleuropäischen Ländern einen regelmässigen Dialog. Aus dieser Gruppe getrauten sich einzig die drei baltischen Staaten, den chinakritischen Brief zu unterzeichnen. Länder wie Polen, Ungarn oder Tschechien schweigen. Indien oder Indonesien versuchen ebenso, keine Position beziehen zu müssen, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.
Etwas überraschender ist, dass Kasachstan und Kirgistan abseitsstehen. Auch ethnische Kasachen und Kirgisen sind in den Umerziehungslagern in Xinjiang gelandet, und die Behandlung ethnischer Minoritäten in Xinjiang ist in diesen Ländern zu einem innenpolitischen Thema geworden. Dennoch getrauen sie sich nicht, den mächtigen Nachbarn China offen zu kritisieren.
Aus einem ganz anderen Grund sind die USA abwesend: Sie sind im vergangenen Jahr unter Protest aus dem Uno-Menschenrechtsrat ausgetreten.
Unter den gegenwärtigen Stärkeverhältnissen ist es praktisch ausgeschlossen, dass der Uno-Menschenrechtsrat eine chinakritische Resolution verabschiedet. Auch hat Peking verstanden, wie es die Mechanismen des Rats spielen lassen muss, um Kritik abzuschwächen oder zu blockieren. Im November musste sich China dem Universellen Überprüfungsprozess (UPR) unterziehen, bei dem die Mitgliedsländer des Menschenrechtsrats alle viereinhalb Jahre Rechenschaft über ihre Menschenrechtssituation ablegen. Auffallend viele Länder lobten in den individuellen Stellungnahmen Peking und stellten allenfalls höchst unkritische Fragen. Beobachter gehen davon aus, dass die chinesische Vertretung diese Länder zu diesem Verhalten «ermutigt» hatte.
Dass Länder während des UPR ihre Freunde mobilisierten, sei nichts Aussergewöhnliches, sagt der Menschenrechtler Ineichen. Doch im Fall China sei die Taktik besonders offensichtlich. Pekings Rolle im Rat habe sich in den letzten drei bis fünf Jahren gewandelt. Während China früher eher zurückhaltend gewesen sei, trete es jetzt viel selbstbewusster auf, etwa indem es gewisse Resolutionen gegen Drittländer aktiv zu verhindern versuche. Unter diesen Voraussetzungen ist davon auszugehen, dass die Spannungen im Menschenrechtsrat noch zunehmen werden.
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